Wo sich Statistik und Einzelschicksal treffen – ein Buchreview für „Working Class“ und „Wir Erben“

Wer eins gelesen hat, wird auch das andere lesen wollen. Nach ihrem einsichtsreichen Buch über das seltene Privileg und die Probleme größerer Erbschaften, hat Julia Friedrichs jetzt die weniger privilegierte Mehrheit durchs Corona-Jahr begleitet. Mangels eines besseren Begriffs nennt sie diese Gruppe die „Working Class“. Das sind für sie weniger die traditionell gewerkschaftlich organisierten Industriearbeiter, sondern diejenigen, die ohne die Sicherheit von nennenswertem Vermögen von ihrer oft schlecht abgesicherten Arbeit leben. Aus den Statistiken und Einzelschicksalen beider Bücher ergibt sich das Bild einer Gesellschaft, die sich ändern muss, damit jeder Mensch eine faire Startchance hat und Zusammenhalt und Dynamik nicht verloren gehen.

Für ihr neues Buch traf Julia Friedrichs Viola. Sie ist gewissermaßen die Brücke zwischen beiden Büchern – zwischen der Welt der Erben und der Welt der vermögenslosen und prekär beschäftigten Working Class. Sie ist vor kurzem mit einer Altersversorgung von etwa 110 Prozent ihres letzten Gehalts in Rente gegangen. Sie ist Teil der Babyboomer und in den Wirtschaftswunderjahren groß geworden. Sie kam ohne Sorge zur Festanstellung beim öffentlichen Rundfunk und konnte mit guter Verzinsung ein kleines Vermögen aufbauen. Sie verabschiedet sich aus dem Arbeitsleben von Kolleg*innen, denen sie in den letzten 10 Jahren ihrer Karriere als Abteilungsleiterin keine Festanstellung mehr ermöglichen konnte und die jetzt unter den hohen und nicht ausreichend gedeckten Pensionszusagen der Vergangenheit leiden. Ob sie Kinder hatte, ist nicht beschrieben. Falls ja, gehören diese wahrscheinlich irgendwann einmal zu den glücklichen Erben einer Eigentumswohnung. Falls nein, müssen sich die anderen nicht nur den Kopf über die Rettung des Planeten zerbrechen, sondern in viel kleinerer Kohorte für ihre Rente aufkommen, während sie den wohlverdienten Ruhestand genießt.

Nicht gerecht? Das ahnt auch sie und wäre bereit, ein paar Hundert Euro für ihre freiberuflichen ehemaligen Kolleginnen beizusteuern. Reicht das? Um der „unteren“ Hälfte der Bevölkerung ohne eigenes Vermögen, der prekär beschäftigten Musiklehrerin ohne Lohnfortzahlung im Krankheits(oder Corona-Krisen-)fall oder dem von Outsourcing und Optimierung betroffenen U-Bahn-Reiniger aus Julia Friedrichs‘ neuem Buch zu helfen – wohl nicht. Insgesamt wieder eine gut lesbare und gut informierte Zustandsbeschreibung unserer Gesellschaft mitten in und aus der Corona-Krise.

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