Deutsches Steuersystem mit gebremster Progression – Umverteilungswirkung spürbar niedriger als Ende der 1990er

Von der Hans-Böckler-Stiftung geförderte Studie

Bei Geringverdienern in Deutschland fällt die prozentuale
Gesamtbelastung durch Steuern insgesamt ähnlich aus wie beim obersten
Fünftel. Die Umverteilungsleistung des deutschen Steuersystems hat seit
Ende der 1990er-Jahre spürbar abgenommen. Das ergibt ein von der
Hans-Böckler-Stiftung gefördertes Forschungsprojekt am Deutschen
Institut für Wirtschaftsforschung (DIW).

Nach landläufiger Auffassung sollte ein gerechtes Steuersystem dazu
beitragen, die hohe und zunehmende Einkommensungleichheit zu reduzieren.
Dafür muss die Besteuerung progressiv ausgestaltet sein, also mit
steigendem Einkommen zunehmen. Inwieweit das in Deutschland zutrifft,
hat ein Forscherteam um Stefan Bach vom DIW analysiert. Die Ökonomen
kommen zu dem Ergebnis, dass sich die Steuern im unteren Fünftel der
Einkommensskala regressiv auswirken, das heißt, sie belasten die
Niedrigverdiener in Relation zu ihrem Einkommen stärker als mittlere
Einkommen. Die Steuerreformen der vergangenen 20 Jahre haben das Problem
verschärft.

Die Wissenschaftler haben für ihre Studie Daten des Sozio-ökonomischen
Panels (SOEP), der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) sowie der
Lohn- und Einkommensteuerstatistik ausgewertet. Den Berechnungen zufolge
sind die Einkommens- und Unternehmensteuern zwar stark progressiv:
Geringverdiener müssen aufgrund von Freibeträgen nichts zahlen, in der
Mitte der Verteilung beträgt die Belastung nur rund 5 Prozent, beim
obersten Zehntel steigt sie auf 25 Prozent und beim Top-Prozent auf 35
Prozent. Deshalb und wegen der großen Einkommensunterschiede kommt die
ärmere Hälfte der Haushalte für knapp 4 Prozent der Einnahmen aus der
Einkommensteuer auf, während auf das reichste Zehntel 59 Prozent, auf
das reichste Hundertstel 26 Prozent entfallen.

Umgekehrt verhält es sich bei den indirekten Steuern, die knapp die
Hälfte des gesamten Aufkommens ausmachen und zu denen beispielsweise die
Mehrwert-, die KFZ- oder die Tabaksteuer gehören. Das ärmste Zehntel
wendet hierfür im Schnitt 23 Prozent seines Bruttoeinkommens auf, das
reichste Zehntel nur knapp 7 Prozent. Obwohl sie nicht einmal 3 Prozent
des Gesamteinkommens erzielen, zahlen die Ärmsten über 5 Prozent der
indirekten Steuern. Die Spitzenverdiener kommen auf ein Drittel des
Einkommens, aber nur auf ein Fünftel der Verbrauchsteuern.

Wenn man direkte und indirekte Steuern summiert, fällt die
Progressionswirkung des Steuersystems insgesamt deutlich geringer aus,
zeigen die Wissenschaftler. In den unteren Etagen der Einkommenspyramide
ist die Wirkung wegen der großen Bedeutung der Verbrauchsteuern sogar
regressiv: Die Gesamtbelastung sinkt von 23 Prozent beim ärmsten Zehntel
bis auf unter 18 Prozent in der Mitte der Verteilung. Erst ab dem
obersten Fünftel übersteigt sie wieder 23 Prozent. Beim reichsten
Zehntel sind es 31 Prozent.

Etwas anders stellt sich die Situation dar, wenn zusätzlich
Sozialbeiträge berücksichtigt werden. Die seien zwar grundsätzlich als
Versicherungsbeiträge zu betrachten, würden allerdings auch zum
Ausgleich von Einkommensunterschieden und zur Finanzierung von
Leistungen ohne Versicherungscharakter verwendet, schreiben die
Forscher. Insofern hätten sie teilweise den Charakter von Steuern. Wenn
man vereinfachend die Hälfte der Sozialbeiträge den Steuern zurechnet,
erhöht sich die relative Belastung der Haushalte mit mittleren und
höheren Einkommen deutlich. Die Topverdiener profitieren dagegen von den
Beitragsbemessungsgrenzen. Die Folge: Die Gesamtbelastung fällt bei der
Mittelschicht nicht viel niedriger aus als bei den sehr Wohlhabenden.

Die Wirtschaftswissenschaftler haben sich auch mit der Entwicklung des
Steuersystems seit 1998 beschäftigt. Laut ihrer Analyse sind
Besserverdiener durch Reformen der Einkommensteuer deutlich entlastet
worden. Von den Anhebungen der Mehrwertsteuer und der Energiesteuern
waren dagegen die weniger betuchten Haushalte überproportional
betroffen. Unter dem Strich beläuft sich die Mehrbelastung des ärmsten
Zehntels bei den Steuern zwischen 1998 und 2015 auf 5,4 Prozent des
Bruttoeinkommens, die Entlastung des reichsten Zehntels auf 2,3 Prozent.
Das reichste Hundertstel ist sogar um 4,8 Prozent entlastet worden. Die
Umverteilungswirkung des Steuersystems habe also spürbar abgenommen,
stellen die Autoren fest.

Zudem gehen sie davon aus, dass die vorliegenden Daten die
Steuerprogression bei sehr Reichen überzeichnen. Denn viele größere
Familienunternehmer oder Superreiche ließen einen Großteil ihrer
Jahreseinkommen in den Unternehmen stehen oder thesaurierten sie in
Holdinggesellschaften, Stiftungen oder „familiy offices“. Würde man
diese einbehaltenen Gewinne berücksichtigen, auf die nur
Unternehmensteuern gezahlt werden, läge die effektive
Einkommensteuerbelastung des reichsten Prozents der Steuerpflichtigen
wohl deutlich niedriger.

Generell halten die Ökonomen die hohe Belastung von Geringverdienern
durch indirekte Steuern für problematisch. Das Existenzminimum von
ärmeren Haushalten zu besteuern, widerspreche dem
Leistungsfähigkeitsprinzip. Zur Entlastung der Mittelschicht empfehlen
sie, den „Steueranteil“ der Sozialbeiträge zu reduzieren und stattdessen
die Einkommensteuer zu erhöhen.
 
Weitere Informationen:

Stefan Bach, Martin Beznoska, Viktor Steiner: Wer trägt die Steuerlast in Deutschland? Steuerbelastung nur schwach progressiv (pdf), DIW-Wochenbericht Nr. 51/52 2016; dieselben: Wer trägt die Steuerlast? Verteilungswirkungen des deutschen Steuer- und Transfersystems (pdf), Study der Hans-Böckler-Stiftung Nr. 347, Dezember 2016

 

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