Studie: Europa verteilt weniger Einkommen um als die USA – und doch wächst die Ungleichheit weniger schnell?

Eine aktuelle Studie der Ungleichheitsforscher Thomas Blanchet, Lucas Chancel und Amory Gethin untersucht anhand neuer Datenzusammenstellung die Unterschiede in der Einkommensungleichheit in Europa und den USA. Die Forscher nutzen dazu nationale Daten aus Studien, Steuerdaten und sogenannte Distributional National Accounts (DINA), mit welchen zusätzliche Einkommen auf Basis der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung verteilt werden. Der Fokus liegt auf der Vereinheitlichung von nationalen Daten zur internationalen Vergleichbarkeit.

Die Studienergebnisse: Die USA sind ungleicher und die Ungleichheit wächst dort schneller als in Europa. Gemessen wird die anhand des Verhältnisses des Einkommensanteils der reichsten zehn Prozent zu den einkommensschwächsten 50 Prozent. Die USA sind nach dieser Metrik sogar weitaus ungleicher als Europa insgesamt, also wenn die europäischen Länder als eine einzelne Entität betrachtet werden. Diese Aussage ist jedoch mit Vorsicht zu genießen, denn einige besonders einkommensschwache europäische Länder fallen wegen fehlender Daten aus der Analyse heraus.

Die besonders interessante Erkenntnis der Studie ist jedoch der identifizierte Grund für diese Unterschiede in der Einkommensungleichheit zwischen den beiden Atlantikseiten. Anders als es frühere Studien zeigten, sehen die Forscher nämlich die sogenannten Markteinkommen, also Einkommen vor Steuern, Sozialabgaben und Transfers, als Treiber dieser Unterschiede. In Europa werden demnach die Ungleichheiten mit Markteingriffen wie etwa Mindestlöhnen besonders stark beeinflusst; es wird jedoch nicht stärker staatlich umverteilt. Im Gegenteil: Das Steuersystem in den USA sei weitaus progressiver.

In Europa haben die Gesamttransfers einen größeren Umfang (47% des Bruttonationaleinkommen gegenüber 35%) und es fließt ein höherer Anteil des BNE an die unteren 50 Prozent. Aus mehreren Gründen wird laut den Studienergebnissen dennoch in Europa insgesamt weniger stark umverteilt. Einerseits kommt hier das weniger progressive Steuersystem zum Tragen. Konkret sind hier die hohen Umsatzsteuern wie die Mehrwertsteuer und Steuern auf Tabak und Alkohol zu nennen, welche die unteren 50 Prozent stark belasten.

Insgesamt würde das Steuer- und Transfersystem in den USA die Einkommen der reichsten
zehn Prozent um 8% des BNE reduzieren. In Europa sei es mit 4% lediglich die Hälfte. Die unteren 50 Prozent profitierten in den USA insgesamt ebenfalls mehr mit Gewinnen in Höhe von 6% des BNE gegenüber 4% in Europa.

Unklar ist, wie sehr die Bemühung der Forscher, die Ergebnisse für einen derart großen Ländervergleich nutzbar zu machen, die einzelnen Länderergebnisse in Frage stellt. So stimmen die Zahlen der Studie nur bedingt mit den ausschließlich auf Deutschland bezogenen – und somit zumeist tiefer gehenden – Analysen zur Verteilung von Steuerlast und Transferbezug überein. Die Zahlen zur Verteilung der Steuerlast sind in der Studie zum Beispiel weniger progressiv als die aus der zentralen deutschen Studie von Stefan Bach sowie einem Update des Wirtschaftsdienstes aus 2021. Zentraler Unterschied ist die Einkommensteuer, welche in der hier diskutierten Studie auch bei den unteren 20-30 Prozent bereits knapp 10% des Einkommens beträgt und zur Spitze der Einkommensverteilung hin nur vergleichsweise leicht auf etwa 25% ansteigt. Entweder versteckt oder nicht vorhanden ist zudem eine Erklärung für das Fehlen der Steuerlast der einkommensschwächsten zwanzig Prozent in den Grafiken.

Die Studienergebnisse sollten aus diesem Grund vorsichtig interpretiert werden. Nichtsdestotrotz stellt die Studie einen spannenden Versuch dar, die nationalen Gesamtsysteme von Steuern und Transfers auf ihre Verteilungswirkung hin zu untersuchen und auf internationaler Ebene neu zu vergleichen. Zudem unterstreichen die Ergebnisse die wichtige Rolle von Eingriffen in Markteinkommen für die Verteilungsgerechtigkeit.

Ergänzung zu Transfersystem und Einkommensumverteilung in Europa und den USA von Ralf Krämer

M.E. ist es irreführend, wenn die diskutierte Studie die Aussage macht, die staatliche Umverteilung sei in den USA stärker als in Europa. Es ist seit langem Fakt und bekannt, dass die USA sowohl vor (pre-tax) als auch nach staatlicher Umverteilung (post-tax and post-transfers) erheblich ungleicher als die allermeisten europäischen Länder sind. Die OECD berichtet regelmäßig die Ungleichheit der Haushaltseinkommen in den verschiedenen Ländern gemessen mit dem Gini-Koeffizienten (je höher der ist desto ungleicher die Verteilung). Daraus lässt sich dann auch entnehmen, dass auch die effektive Umverteilungswirkung im Sinne der Reduzierung der Ungleichheit der Haushaltseinkommen der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter durch staatliche Steuern und Abgaben sowie Einkommenstransfers in den USA schwächer ist als in den meisten europäischen Ländern. Zur staatlichen Umverteilung werden dabei auch gesetzlich geregelte Sozialbeiträge und Einkommen aus Sozialversicherungszahlungen gezählt.

Die Studie diskutiert auch den Unterschied dieser Ergebnisse zu den eigenen. Diese weisen durch Einbeziehung weiterer Einkommen v. a. der Reichen (inkl. unverteilte Unternehmensgewinne) eine noch höhere Ungleichheit vor Umverteilung aus. Besonders die Ungleichheit in den USA ist extrem, die Zahlen sind erschreckend.

Durch die Einbeziehung aber auch der Steuern auf diese Einkommen, indirekter Steuern und auch von sozialen Sachleistungen wird die Differenz der Ungleichheit in den USA gegenüber Europa dann aber ein bisschen geringer ausgewiesen. Die Ungleichheit ist auch after-tax dann noch größer als in der OECD-Messung, aber der Abstand ist after-tax geringer. U. a. machen eben Gesundheitsleistungen (auch wenn sie gering und zugleich überteuert sind) relativ zu einem geringeren Einkommen in der unteren Hälfte einen höheren Umverteilungsanteil aus.

Ein grundsätzliches Problem dieses Vergleiches ist aber insbesondere in Bezug auf die reicheren Länder Europas, in West- und Nordeuropa, dass die Bedeutung der sozialen Sicherungssysteme, die hier ungleich stärker ausgebaut sind als in den USA, nicht angemessen erfasst wird. Es wird deutlich (vgl. etwa oben Figure VI), dass die Belastung der einkommensmäßig unteren drei Viertel der Bevölkerung durch Steuern, insb. auch indirekte, und Sozialbeiträge höher ist als in den USA – wodurch sich die Umverteilung von oben nach unten geringer darstellt, weil ja die Unteren einen größeren Teil der umverteilten Einkommen selbst auch aufbringen.

 

Das Gesamtvolumen der Umverteilung ist in Nord- und Westeuropa viel höher als in USA. Allerdings geht es bei den sozialen Sicherungssystemen nicht hauptsächlich um eine Umverteilung von oben nach unten, wie sie sowohl OECD als auch die aktuelle Studie mit unterschiedlichen Methoden messen, sondern um die soziale Absicherung von Lebensrisiken. Diese erfolgt hier in staatlich geregelten Systemen mit Elementen sozialer Umverteilung, die bei steuerfinanzierten Systemen in Nordeuropa tendenziell stärker ausfallen als bei den überwiegend beitragsfinanzierten Systemen, wie wir in Deutschland eines haben. Wobei es insbesondere in der Kranken- und Pflegeversicherung sowie der Arbeitslosenversicherung auch hier Umverteilung durch die einkommensabhängigen Beiträge gibt, wogegen die Leistungen demgegenüber überproportional unteren Einkommensgruppen zugutekommen.

Aber hauptsächlich leisten diese Systeme eine Umverteilung von Gesunden zu Kranken und Pflegebedürftigen, von Jungen zu Alten, von Kinderlosen zu Eltern, von weniger zu stärker von Arbeitslosigkeit betroffenen Gruppen, von Leuten mit niedrigen Wohnkosten zu Leuten mit sie überlastenden hohen Wohnkosten usw., und zwar in hohem Maße auch bei gleichem Bruttoeinkommen. In den USA werden diese Risiken nur in einem viel geringeren Maße durch staatliche Sozialsysteme abgesichert und daher werden auch weniger Steuern und Beiträge gezahlt, die letztlich dies finanzieren. Wenn aber die in den USA erheblich höheren privaten Aufwendungen für Altersvorsorge und Krankenversicherung/Gesundheitskosten und höhere Bildung dort einberechnet würden, müssten für die Haushalte, auch die mit mittleren und unteren Einkommen, erheblich höhere Abzüge vom verfügbaren Nettoeinkommen ausgewiesen werden. Viel mehr Menschen als in Europa sind auch gar nicht auf einem akzeptablen Niveau abgesichert. Die Ausblendung dieser Sachverhalte verzerrt das Bild, das bei einem solchen Vergleich entsteht.

Es ist aus Gründen der Durch- und Umsetzbarkeit leider unvermeidbar, dass der Sozialstaat hauptsächlich von der lohnabhängigen Bevölkerung selbst bezahlt wird und nicht hauptsächlich von den Reichen. Bei einem für bedarfsdeckende oder gar lebensstandardsichernde Leistungen hinreichend großen Volumen sozialstaatlicher Umverteilung würde jedenfalls in Europa das Einkommen nur der Reichen dafür auch gar nicht gar nicht reichen. Eigentlich müsste man dann für einen internationalen Vergleich auch noch die Ergebnisse der Sozial- und Umverteilungssysteme und die damit zusammenhängenden sozialen Sachverhalte mit betrachten, etwa Kriminalitätsraten und Anteil der Gefängnisinsassen, Armut, Obdachlosigkeit, Analphabetismus, Lebenserwartung. Da liegen die USA beschämend schlecht für ein so reiches Land, deutlich hinter den europäischen Ländern, sogar das viel ärmere und von völkerrechtswidrigen US-Sanktionen geschlagene Kuba liegt da besser.

Weil der Hauptzweck der Sozialversicherungssysteme die Versicherung von Risiken ist und nur in zweiter Linie die soziale Umverteilung und daher es Beitragsbemessungsgrenzen gibt und erhebliche Bevölkerungsteile mit überdurchschnittlichen oder hohen Einkommen gar nicht einbezogen sind, insb. Unternehmer u. a. Selbstständige und Beamte, sind auch Darstellungen wie der „Wal in der Badewanne“ (s. o.) irreführend und verzerrt, weil im ganz oberen (rechten) Einkommensbereich dann überwiegend Bevölkerung vertreten ist, die in diesen Sozialversicherungen gar nicht einbezogen ist und daher auch keine Beiträge zahlt. Die steigende Abgabenquote ganz am unteren Ende (die „Schwanzflosse“) kommt auch dadurch zustande, dass die Ausgaben und damit die darauf gezahlten Steuern hier höher sind als das Einkommen, das aber den Nenner des Bruchs bildet. Ich bin aber auch der Auffassung, dass durch die Einbeziehung aller Erwerbstätigen in die Renten- und der ganzen Bevölkerung in die Kranken- und Pflegeversicherung bei Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenzen der soziale Ausgleich verstärkt und die Beiträge für die Masse der Versicherten gesenkt werden sollten.

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