Überlegungen zu Marc Buggelns „Das Versprechen der Gleichheit“   

Marc Buggeln legt eine große Studie zur Geschichte von Steuern und Ungleichheit in Deutschland vor. Die Implikationen daraus: Es bedarf einer höheren Besteuerung von Vermögen. Doch welchen Spielraum bietet das Grundgesetz dafür?

Es ist eine keine neue Erkenntnis, dass die Einkommen und Vermögen in Deutschland ungleich verteilt sind. Über 17 Millionen Menschen, 21Prozent der Bevölkerung, sind im reichen Deutschland von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht, teilt das Statistische Bundesamt im Mai 2023 mit. Institutionen wie die Bundesbank und die OECD kritisieren die im Vergleich zu anderen Ländern große Schere zwischen arm und reich. In ihrem Monatsbericht aus April 2023 konstatiert die Bundesbank zwar einen geringfügigen Rückgang der Vermögensungleichheit. Zuletzt seien die Giro- und Spareinlagen der geringvermögenden Haushalte bei gleichzeitiger Schuldenreduzierung etwas angestiegen. Im europäischen Vergleich bleibe die Ungleichheit aber hoch. Die 10 Prozent vermögendsten Haushalte besitzen lt. Bundesbank 56 Prozent des gesamten Nettovermögens, während auf die ärmere Hälfte der Haushalte nur 1,2 Prozent der gesamten Vermögen entfallen (Monatsbericht Juli 2022). Der geringfügige Abbau der Ungleichheit dürfte auch mit dem veränderten Konsum- und Sparverhalten während der Corona-Pandemie zusammenhängen, also kaum eine Trendwende indizieren.

In ihrem im Mai 2023 veröffentlichten „Wirtschaftsbericht Deutschland“ fordert die OECD, der Ungleichheit zwischen Arm und Reich durch eine geänderte Steuerpolitik entgegenzuwirken.   Zweifel an der Gerechtigkeit der Erbschaftbesteuerung, einem zentralen Regulativ für mehr Egalität, haben inzwischen selbst Fachpolitiker der CDU, deren Fachkommission Wohlstand kürzlich für einen Einheitssteuersatz und den Abbau von Vergünstigungen plädierte.

Eine deutliche Neujustierung der steuerlichen Stellschrauben für mehr Egalität, das ist auch das Anliegen des Berliner Geschichtswissenschaftlers Marc Buggeln, der in seiner über 1000seitigen Studie „Das Versprechen der Gleichheit – Steuern und soziale Ungleichheit in Deutschland von 1871 bis heute“ (Suhrkamp, 2022) die Wechselwirkung von Besteuerung und sozialer Gerechtigkeit untersucht hat. Buggeln zeichnet die Entwicklung von Steuer- und Sozialstaat im 19. Jahrhundert bis heute nach. Ihn beschäftigt die Frage, welchen Anteil die Besteuerung beim Abbau der feudalen Vermögensverhältnisse des 19. Jahrhunderts hatte, wie mittels der Besteuerung ab dem ersten Weltkrieg bis in die Mitte der 70er Jahre hin eine gewisse Umverteilung organisiert wurde und wo wir jetzt stehen. Er schließt damit an die Arbeiten von Thomas Piketty („Das Kapital im 21. Jahrhundert“) an, der die soziale Ungleichheit zwar maßgeblich anhand von Steuerdaten erforschte, die Rolle der Besteuerung für die Aufrechterhaltung oder Veränderung des Status quo aber nicht systematisch in den Fokus nahm.

Die Hebel zum sozialen Ausgleich zwischen Arm und Reich sind für Buggeln vor allem der progressive Einkommensteuertarif, die Erbschaft- und Vermögensteuer sowie das richtige Verhältnis zwischen direkten und indirekten Steuern, denn letztere belasten die Armen relativ stärker als die Reichen.

Dass es historisch überhaupt zu einer relevanten Einkommensbesteuerung und nachfolgend zum progressiven Tarif kam, fiel nicht als Geschenk vom Himmel. „Steuern entstehen aus dem sozialen Ringen der verschiedenen sozialen Gruppen und Interessen“ zitiert Buggeln den Sozialphilosophen Norbert Elias.

In angemessener Kürze referiert Buggeln zunächst die Entstehungsgeschichte des modernen Steuerstaates. Der verdankt seine Existenz einer militärischen Aufrüstung. Die militärische Konkurrenz der europäischen Staaten zu Beginn der Neuzeit führte zur Errichtung stehender Heere statt anlassbezogen aufgestellter Söldnertruppen. Stehende Heere waren teuer. Dies führte zur systematischen Besteuerung, die der Staat immer mehr selbst in die Hand nahm, nachdem zuvor beauftragte private Steuereintreiber für den Steuervollzug zuständig waren. Gleichzeitig wurde die Steuerpflicht aber auch eine Grundlage für die Forderung nach staatsbürgerlichen Rechten. „No taxation without representation“ war ein zentraler Slogan des amerikanischen Freiheitskampfes. Wer Steuern zahlen muss, will mitbestimmen. Die Französische Revolution wandte sich auch gegen die die ärmere Bevölkerung belastenden indirekten Steuern sowie gegen die Steuerprivilegien des Adels und des Klerus. Militärstaat, Steuern und staatsbürgerliche Rechte sind somit stark miteinander verflochten. Schon frühzeitig war man sich der Gefahren des Steuerstaates bewusst. Der begnügte sich nicht mehr wie bislang mit Schätzungen von Vermögen und Einkommen, sondern wollte nun präzise Daten. Wozu dies führen kann, zeigte sich später. Steuerdaten wurden eine wesentliche Grundlage für die Ausbeutung und Verfolgung der jüdischen Bevölkerung. Dennoch, so Buggeln, überwiegen die positiven Aspekte der Datenerhebung. Er zitiert Thomas Piketty: „Von den Zahlen nichts wissen zu wollen, dient selten der Sache der Armen“. Ein früher Versuch, die Einkommensverhältnisse der Reichen offenzulegen, war das 1911 von Rudolf Martin veröffentliche Jahrbuch des Vermögens und Einkommens der Millionäre in Preußen.

Mit der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts erstarkte das Bürgertum, gleichzeitig entstand eine verarmende Arbeiterschicht, die sich politisch organisierte. Getrieben durch Revolutionsängste und die politische Konkurrenz durch sozialistische bzw. sozialdemokratische Kräfte sahen die regierenden bürgerlichen Kräfte sich gezwungen, den Forderungen nach Gleichheit in der Besteuerung zumindest etwas nachzukommen. Es etablierte sich eine (bescheidene) Einkommensteuer. Die Finanzwissenschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts, vor allem in Person des Ökonomen Adolph Wagner, machte sich für eine progressive Einkommensbesteuerung stark. Man sah in Steuern jetzt mehr als ein reines Fiskalinstrument mit dem ausschließlichen Zweck der Staatsfinanzierung. Die Steuerbelastung sollte auch gerecht sein und Steuern sollten auch zum sozialen Ausgleich genutzt werden können. Aber erst die beiden Weltkriege führten dazu, dass zunächst die USA und Großbritannien die Reichen stärker besteuerten. Die hohen Militärausgaben wurden in den beiden angelsächsischen Ländern zum entscheidenden Auslöser für den Siegeszug der progressiven Besteuerung. Die Kriegsfinanzierung funktionierte nur, wenn jetzt auch die Reichen spürbar zur Kasse gebeten wurden. Kriegs- und inflationsbedingte Kapitalverluste verringerten die gravierende Vermögensungleichheit. Deutschland setzte bei der Finanzierung der gestiegenen Staatsausgaben im 1. Weltkrieg zunächst auf Anleihen und zog erst nach Kriegsende bei der Einkommensbesteuerung nach. In Sachen Erbschaftsteuer blieb Deutschland allerdings immer hinter den angelsächsischen Ländern zurück. Insbesondere in den USA waren der progressive Tarif wie auch eine deutlich ausgeprägtere Erbschaft- und Vermögensbesteuerung getragen von dem Leistungsgedanken. Von der Staatsgründung an wollten die Vereinigten Staaten sich von den europäischen Adels- und Feudalsystemen abgrenzen, die eine Ungleichheit qua Geburt perpetuierten. „Das deutsche System legt hohen Wert auf Statuskonservierung, das amerikanische auf Dynamik und Risiko“, so Buggeln.

Dass die Nationalsozialisten mittels Steuern eine Umverteilung von unten nach oben vorgenommen hätten, ist eine These des Historikers Götz Aly, der Buggeln vehement widerspricht. Zwar gab es Steuersenkungen für Verheiratete und Familien mit Kindern. Diese wurden aber kompensiert durch eine höhere Belastung durch indirekte Steuern, neue Abgaben wie Mitgliedsbeiträge für die Arbeitsfront und nicht unbedingt freiwilligen Spenden für das Winterhilfswerk, sowie einem Lohnstop (mit entsprechend anteilig geringerem Lohnsteueraufkommen).

Nach dem zweiten Weltkrieg bremsten die von den Alliierten diktierten hohen Spitzensteuersätze den wirtschaftlichen Aufschwung der alten Bundesrepublik keineswegs aus. Die in den 50ger Jahren geäußerte These des liberalen Wirtschaftswissenschaftlers Hayek, die progressive Besteuerung sei ein „Irrtum, der … fast unvermeidlich zur Zerstörung des marktwirtschaftlichen Systems führt“ erwies sich als Fehleinschätzung. Die hohen Steuersätze milderte man allerdings mit der Einführung von Steuervergünstigungen ab. Der soziale Ausgleich stand auch auf der Agenda der CDU-geführten Nachkriegsregierungen. Der Anteil der Sozialausgaben am Staatshaushalt stieg. Als ein Meilenstein wurde die große Rentenform unter Adenauer betrachtet. In ihren „Freiburger Thesen“ von 1971 konstatierte selbst die FDP eine Bedrohung der Freiheit durch die Konzentration des Kapitals. Unter der sozialliberalen Koalition kam es zu einer maßvollen Erhöhung der Spitzensteuersätze und zu einer Entlastung der Bezieher geringer Einkommen. Die Jahrzehnte bis Mitte der 70er Jahre gelten als Phase größerer Egalität, aufgrund einer, so Buggeln, „sozialliberalen Gouvermentalität“.

Der Trend des 20. Jahrhunderts zu einer Abmilderung der gigantischen Einkommens- und Vermögensdifferenzen hat sich lt. Buggeln aber seit Ende der 70er Jahre umgekehrt. Modellhaft wurde die Steuerpolitik der USA und Großbritanniens, verbunden mit den Namen Reagan und Thatcher: Absenkung der hohen Spitzensteuersätze, die steuerliche Entlastung der Unternehmen und der Kapitaleinkünfte, eine stärkere Gewichtung der indirekten Steuern, welche relativ zum Einkommen die Geringverdiener stärker belasten. Infolge der Globalisierung und dem nun einsetzenden Steuerwettbewerb zogen andere Länder nach.

Weltweit sollen im Jahr 2018 26 Superreiche ebenso viel Vermögen besitzen wie die die ärmere Hälfte der Menschheit. Die Schere klafft wieder in einem Maße auseinander wie in längst überwunden geglaubten Faudalepochen vergangener Jahrhunderte. In den USA haben nach Piketty die Anteile der Spitzeneinkommen und -vermögen wieder den historischen Höchststand um 1900 erreicht.

Buggelns Studie endet aber nicht mit diesem Befund. (Bescheidene) Fortschritte sieht Buggeln gegenwärtig in den Tendenzen, international die Steuerflucht einzudämmen und eine Mindestbesteuerung für global agierende Konzerne einzuführen. Die ernüchternde Erkenntnis, dass vor allem die Weltkriege den Anstoß für den Siegeszug progressiver Steuertarife gaben, möchte er nicht so stehen lassen. Buggeln verweist auf die Vorarbeiten deutscher Finanzwissenschaftler, vor das einflussreiche Werk von Adolph Wagner, welches das theoretische Fundament für die progressive Besteuerung lieferte. Nicht weniger wichtig war der Druck der sozialen Bewegungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts, welcher die konservativen Regierungen zum Nachgeben zwang. Schon vor dem 1. Weltkrieg beschloss Preußen mit der vom Finanzminister Johannes Miquel konzipierten Steuerreform von 1891/93 erstmals eine progressive Einkommensteuer. Aus heutiger Sicht mit einer Bagatellbelastung: gerade einmal 4 Prozent betrug der Spitzensteuersatz. Aber damit war immerhin deutlich vor dem ersten Weltkrieg ein Anfang gemacht. Dass Kriege nicht zwangsläufig und ausschließlich der Motor für mehr Vermögensegalität sein müssen, sieht Buggeln zudem durch das Beispiel der skandinavischen Länder bestätigt.

Buggelns Studie liefert eine Fülle bemerkenswerter Details. Aus heutiger Sicht überraschender Verbündeter im Kampf um die Einführung der Einkommensteuer waren im Preußen des 19. Jahrhunderts die Großgrundbesitzer. Allerdings nicht aus altruistischer Motivation, sondern in Abwehr der von ihnen abgelehnten Besteuerung von Landbesitz und Vermögen. Buggeln widerlegt das gängige Vorurteil, hohe Einkommensteuerspitzensätze seien sozialistisches Teufelszeug. Nein, es waren die westlichen Demokratien, die so ihre Wehretats finanzierten. Und es war der sozialdemokratische Bundeskanzler Schröder, unter dem der Spitzensteuersatz auf unter 50 Prozent abgesenkt wurde.

Als notwendige Konsequenz aus der gegenwärtigen neuen und alten Ungleichheit von Arm und Reich fordert Buggeln eine Wiedererhebung der Vermögensteuer (idealerweise global), die Konsolidierung der Erbschaftsteuer insbesondere durch die Streichung der Begünstigungen für Betriebsvermögen und eine Finanzmarkttransaktionssteuer. Das Prinzip des progressiven Steuertarifs ist für ihn ein Kernelement gerechter Steuerpolitik. Zwar wird der progressive Tarif derzeit nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Aber die Steuergeschichte lehrt, dass Forderungen nach einer sog. Flat-Tax oder – abgemildert – nach einem Stufentarif irgendwann wiederbelebt werden. Selbstverständlich muss auch für die Besteuerung der Kapitalerträge wieder der progressive Normaltarif gelten.

Mit seinen Forderungen steht Buggeln nicht allein, selbst die OECD befürwortet eine Steuerpolitik in die von ihm gewiesene Richtung. Insbesondere auch die Privilegierungen für die Vererbung von großen Vermögen sind lt. OECD einzuschränken. Sie hat errechnet, dass im Jahr 2021 auf verschenkte und vererbte Vermögen im Wert von 118 Mrd. Euro lediglich 11 Mrd. Euro Steuern gezahlt wurden, was einer Steuerbelastung von 9 Prozent entspricht. Und dies enthalte noch nicht die durch Freigrenzen steuerbefreiten Vermögensübergänge. Effektiv schätzt die OECD die Belastung auf 3 Prozent, nach anderen Schätzungen liegt sie noch deutlich darunter.

Mit der erbschaftsteuerlichen Privilegierung des Betriebsvermögens wird sich das Bundesverfassungsgericht noch in diesem Jahr zu beschäftigen haben. Ein Erbschaft-Steuerpflichtiger, der diese Bevorzugung nicht in Anspruch nehmen kann, macht mit seiner Verfassungsbeschwerde eine Ungleichbehandlung geltend (Az. des BVerfG: 1 BvR 804/22).

Welchen Spielraum bietet das Grundgesetz, um mittels der Besteuerung die Vermögensungleichheit abzubauen? Fordert die Verfassung, dass die immense Spreizung zwischen arm und reich beseitigt werden muss? Diese Fragen sind nicht Thema der besprochenen Studie, sollen aber im Folgenden kurz erörtert werden.

Eine Handlungsverpflichtung für den Gesetzgeber könnte aus dem Gleichheitssatz des Art. 3 GG, der Gemeinwohlbindung des Eigentums in Art. 14 Abs. 2 S.2 GG sowie aus dem Sozialstaatsprinzip in Art. 20 Abs. 1 GG abzuleiten sein.

Als unmittelbare Rechtsgrundlage für eine Pflicht zu einer umverteilenden Sozialpolitik kommen die genannten Verfassungsartikel nach herrschendem Verfassungsverständnis eher nicht in Betracht. Jedoch ergibt sich aus dem Zusammenspiel der Vorschriften für den Besteuerungsgesetzgeber ein erstaunlich großer Gestaltungsspielraum, der sich sogar zu einer Handlungspflicht verdichten kann.

Verfassungsrechtlicher Konsens ist und war immer schon, dass die Besteuerung das Eigentumsgrundrecht zulässigerweise beschränkt. Der weite Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers bei der Ausgestaltung der Steuern endet grundsätzlich erst, wenn die Besteuerung konfiskatorisch wirkt. Dies gilt gerade auch für die Erbschaftbesteuerung; der Schutz des Erbes ist gegenüber demjenigen des Eigentums sogar abgeschwächt.

Die Gemeinwohlbindung des Eigentums gem.  Art. 14 II GG wird als Konkretisierung des Sozialstaatsgebotes für die Eigentumsverfassung verstanden, ohne dass hieraus allerdings konkrete Handlungsverpflichtungen für den Gesetzgeber abgeleitet werden.

Der Sozialstaat ist selbst als Verfassungsgebot ist im Grundgesetz wenig konturiert. Art 20 I GG verpflichtet den Gesetzgeber zu einem Ausgleich sozialer Gegensätze, überlässt ihm aber das „wie“. Die Verfasser des Grundgesetzes haben so gut wie gar nichts dazu hinterlassen, was sie sich unter einem Sozialstaat vorstellten. In erster Linie wird das Sozialstaatsgebot als eine Fürsorgepflicht für die Hilfsbedürftigen interpretiert: steuerliches Existenzminimum, Sozialhilfe, Chancengleichheit in der Ausbildung, Unterstützungsleistungen wie Prozesskostenhilfe und anderes werden aus dem Sozialstaatsgebot abgeleitet. Insoweit bestehen auch Handlungsverpflichtungen.  „Nach oben“ hin scheint das Grundgesetz keinerlei Schranken vorzugeben. Weder ist Superreichtum verboten noch lässt sich dem Grundgesetz ein Richtwert entnehmen, der eine zu große Spanne zwischen arm und reich und damit eine verfassungswidrige soziale Ungleichheit indiziert.

Zumindest aber sorgt der für das Steuerrecht zentrale Gleichheitssatz des Art 3 GG für eine steuersystemimmanente Gerechtigkeit. Eine verfassungswidrige Ungleichheit kann vorliegen, wenn innerhalb einer Steuerart eine Gruppe von Steuerpflichtigen ohne nachvollziehbare sachliche Gründe gegenüber anderen bevorzugt wird. Die erbschaftsteuerliche Privilegierung von Betriebsvermögen, eine der wesentlichen Ursachen für die Verfestigung der bestehenden ungleichen Vermögensverhältnisse, stellt nach Auffassung vieler Steuerrechtler eine solche Ungleichbehandlung dar. Nach geltendem Recht können Betriebsvermögen in Milliardenhöhe ohne nennenswerte Steuerbelastung vererbt oder verschenkt werden, während z.B. ein von seiner (nicht verwandten) Patentante als Erbe ihres Privatvermögens eingesetztes Kind dem erbschaftsteuerlichen Höchstsatz von 30 Prozent unterliegt.

Als Zwischenergebnis lässt sich festhalten, dass das Grundgesetz dem Gesetzgeber einen weiten Gestaltungsspielraum lässt, die sozialen Verhältnisse zu ändern. Das Grundgesetz verbietet dem Gesetzgeber eine Umverteilung grundsätzlich nicht. Nicht nur, was die Steuern, sondern auch was die Wirtschaftsordnung als Ganzes betrifft, hat der Gesetzgeber eine weitgehende Gestaltungsfreiheit. Eine Handlungspflicht, der Entstehung und Verfestigung übergroßen Reichtums entgegenzuwirken, wäre nach dem derzeit herrschenden Verfassungsverständnis aber zu verneinen.

Mütter und Väter des Grundgesetzes dürften sich allerdings kaum vorgestellt haben, welche Vermögensakkumulationen in späteren Jahrzehnten entstehen würden. Man dachte seinerzeit an die ungerechte Grundeigentumsverteilung. Art. 74 I Nr. 30 GG enthält eine Ermächtigung zu einer neuen Bodenverteilung, von der der Gesetzgeber jedoch keinen Gebrauch machte.

Dass eine in Arm und Reich gespaltene Gesellschaft deren demokratische Verfassung untergräbt, ist keine neue Erkenntnis. Eine der Ursachen für eine erschreckend hohe Zahl von Nichtwählern ist die Resignation armer Bevölkerungsteile, die sich in der Politik nicht mehr repräsentiert sehen. Das führt in einen Teufelskreis: die ohnehin ausgeprägteren Möglichkeiten der Vermögenden zur Politikbeeinflussung und -steuerung durch Lobbyismus werden weiter verstärkt.

Welche steuerliche Maximalbelastung ist verfassungsrechtlich erlaubt? In der bekannten Vermögensteuerentscheidung vom 22.06.1991 (2 BvL 7/91) hatte das Bundesverfassungsgericht den sog. Halbteilungsgrundsatz aufgestellt: Die ertragsteuerliche Gesamtbelastung des sog. Sollertrags müsse in der Nähe einer hälftigen Teilung zwischen privater und öffentlicher Hand verbleiben. Davon ist das Bundesverfassungsgericht später aber selbst wieder abgegangen. Einkommensteuerlich hat es sich nie explizit zu einer bezifferbaren Maximalbelastung geäußert.

Die soziale Sprengkraft von übergroßem Reichtum fand Eingang in zwei abweichende Voten einzelner Verfassungsrichter. Zum Halbteilungsgrundsatz äußerte seinerzeit Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde, es bestehe „die Gefahr, dass sich die Ungleichheit ungezügelt potenzieren kann und sich darüber die freiheitliche Rechtsordnung selbst aufhebt. … Der Staat kann die Leistungsfähigkeit, die in der Innehabung großer Vermögen liegt, nicht mehr nutzen und wird gegenüber einer möglichen Eigendynamik, die sich aus der Akkumulation von Vermögenswerten ergeben kann, machtlos.“ Und drei RichterInnen des Bundesverfassungsgerichts vertraten in ihrem abweichenden Votum zur Erbschaftsteuerentscheidung vom 17.12.2014 (s.o.) folgendes: „Die Erbschaftsteuer dient deshalb nicht nur der Erzielung von Steuereinnahmen, sondern ist zugleich ein Instrument des Sozialstaats, um zu verhindern, dass Reichtum in der Folge der Generationen in den Händen weniger kumuliert und allein aufgrund von Herkunft oder persönlicher Verbundenheit unverhältnismäßig anwächst.“ Deutschland weise gegenwärtig (2014) innerhalb der Eurozone den höchsten Grad an Ungleichheit bei der Verteilung des Vermögens auf.  … Die Erbschaftsteuer „wirkt damit der Gefahr entgegen, dass durch eine zunehmende Ungleichverteilung von Mitteln die Chancen auf gesellschaftliche wie politische Teilhabe auseinanderdriften und sich so letztlich Einfluss und Macht zunehmend unabhängig von individueller Leistung verfestigen und an Herkunft gebunden sind. Mit diesem Zweck ist die Erbschaftsteuer ein Instrument, mit dem der Staat ungleichen Lebenschancen entgegenwirkt.“ Diese Voten zeigen, dass Art. 3 und 20 GG durchaus einen Interpretationsspielraum zulassen, ob und in welchem Umfang ein Verfassungsauftrag zur Beseitigung der Ungleichheit von Arm und Reich besteht.

Bei der Erbschaftsteuerreform 1974 wurde zur Begründung einer Tariferhöhung für Vermögen über 10 Mio. DM verwiesen auf das gesellschaftspolitische Anliegen, Vermögenskonzentrationen in diesen Bereichen entgegenzuwirken (BT Drs. VI/3418, S. 72). Unmissverständlich drückt es die bayerische Landesverfassung aus. Art. 123 III S. 1 der Verfassung des Freistaates Bayern lautet: „Die Erbschaftsteuer dient auch dem Zwecke, die Ansammlung von Riesenvermögen in den Händen einzelner zu verhindern.“

Buggelns Studie ist schon allein wegen ihres Umfangs keine leichte Lektüre. Wer sich allerdings vertieft mit der Geschichte von Steuern und Sozialstaat beschäftigen möchte, dem ist das Buch sehr zu empfehlen. Mit der detaillierten, durch zahlreiche Statistiken belegten Darstellung der deutschen Steuerpolitik vom Kaiserreich bis heute setzt es Maßstäbe und wird einen Platz als Standardlektüre zu dieser Thematik einnehmen. Hinter den Titel „Das Versprechen der Gleichheit“ muss man allerdings ein Fragezeichen setzen. War der Treiber für die Entwicklung von progressivem Einkommensteuertarif, Vermögen- und Erbschaftbesteuerung doch vor allem der schlichte Finanzbedarf der Staaten in Kriegszeiten, weniger idealistische Gerechtigkeitsvorstellungen. Und es lässt sich mit der herrschenden Verfassungsauslegung kaum behaupten, dass das Grundgesetz ein „Versprechen“ sozialer Gleichheit enthielte. Die Verfassung lässt jedoch eine andere Justierung der Vermögensverhältnisse zu. Die Erbschaftsteuer ist hierfür das genuine Instrument. Die Überprüfung der Privilegien für die großen Betriebsvermögen wäre ein Anfang.

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