Warum mehr Steuergerechtigkeit #1: Die ungleiche Angleichung von Arm und Reich

In Zeiten von Corona wird besonders deutlich, welch tragische Folgen Armut und extreme Einkommensungleichheit haben. Die Situation für Länder des Globalen Südens verschlechtert sich dramatisch. Die Gesundheitsinfrastruktur in praktisch allen afrikanischen Ländern ist der Krise nicht gewachsen. Selbst wenn das Geld für Verbesserungen da wäre – medizinische Ausrüstung findet ihren Weg zunächst in die reichen Länder, beziehungsweise bleibt direkt im Land der Herstellung. Eine Studie warnt zusätzlich vor einem “Tsunami der Armut” durch Einkommensverluste infolge der Coronakrise. 419 Millionen Menschen könnten demnach zusätzlich unter die Armutsgrenze von 1,9 Dollar pro Tag fallen. Schon vor der Krise war die Situation dramatisch ungerecht. So ließen sich zwei Drittel der Einkommensunterschiede allein durch das Herkunftsland erklären und es galt viel zu häufig:

Sag mir, woher du kommst, und ich sage dir, wie reich (arm) du bist!

Scheinbar im Widerspruch dazu wurde in den letzten Jahren viel über sich annähernde Einkommen geschrieben – Arm und Reich wuchsen weltweit angeblich enger zusammen: “Mehr Wohlstand: Die globale Ungleichheit sinkt” (FAZ) oder “Das Märchen von der Jahrhundertungleichheit” (Zeit). Tatsächlich leben viel weniger Menschen in Armut als noch Mitte des letzten Jahrhunderts und auf aggregrierter Ebene zeigen die Daten in der Tat eine globale Konvergenz der Einkommen. Auch in weiteren Bereichen des menschlichen Wohlergehens gab es auf globaler Ebene riesige Fortschritte und globale Annäherung. Die öffentliche Gesundheit genauso wie bildungsbezogene Indikatoren haben sich in den letzten Jahrzehnten auch im Globalen Süden stark verbessert. Beispiel Kindersterblichkeit: Der globale Durchschnitt von 19 % im Jahr 1960 ist bis 2017 auf knapp unter 4 % gefallen.

Schaut man sich die Zahlen aber genauer an, zeigt die Fassade deutliche Risse. Trotz dieser Fortschritte braucht die Welt weiterhin dringend mehr (Steuer-)Gerechtigkeit und nachhaltige Entwicklung, weil:

  1. die weltweiten Unterschiede weiterhin gewaltig sind, und
  2. das globale Zusammenwachsen – paradoxerweise – äußerst ungleich verläuft.

Zunächst gibt es Vermögensunterschiede schier unvorstellbaren Ausmaßes, die jedes Jahr auf Neue von Oxfam-Berichten unterstrichen werden. Nach dem letzten Bericht vom Januar 2020 besitzen allein die 2.153 Milliardäre so viel wie 4,6 Milliarden Menschen, also weit mehr als die Hälfte der gesamten Menschheit. Die globalen wirtschaftlichen Unterschiede sind demnach sehr groß. Da Einkommen für die meisten Menschen wahrscheinlich einen größeren Einfluss auf ihre Lebensqualität haben, geht es in diesem Beitrag vor allem um globale Einkommensunterschiede. Vermögensungleichheit ist natürlich dennoch wichtig, nicht zuletzt durch ihren Einfluss auf die Ungleichheit der Einkommen und des politischen Einflusses.

Globale Unterschiede der Einkommen sind enorm, wenn auch geringer als Vermögensunterschiede. Eine Zahl verdeutlicht die zugrundeliegende Ungerechtigkeit besonders eindrücklich: Über zwei Drittel der globalen Einkommensunterschiede können allein durch das Land, in dem Menschen leben, vorhergesagt werden. Nur durch den völlig unverschuldeten Umstand, dass eine Person in den USA statt im Kongo (Demokratische Republik) geboren wurde, erhöht sich ihr Einkommen statistisch gesehen um das 93-fache.1

Die Menschheit scheint jedoch auf einem guten Weg zu mehr Gerechtigkeit zu sein. Globale Einkommensungleichheit ist weltweit seit etwa 1990 relativ rapide gesunken. Dies liegt vor allem am starken Wachstum der mittleren Einkommensdezilen in den bevölkerungsreichen Ländern Asiens, allen voran China. Die Grafik illustriert, dass die im Vergleich zu den anderen Kontinenten besonders zahlreiche Bevölkerung Asiens größtenteils die Armutsgrenze hinter sich gelassen hat.

 

Das klingt erst einmal sehr gut, und ist es auch. Milliarden Menschen haben hiervon profitiert. Es hat sich eine, zumindest in statistischer Hinsicht, globale Mittelschicht gebildet. Es gibt jedoch einige Vorbehalte: Indikatoren, die wie der berühmte GINI-Koeffizient Ungleichheit anhand einer zusammengesetzten Zahl feststellen, verdecken jegliche Nuance. Die berühmt gewordene “Elefanten-Grafik” zeigt das Dilemma: Zusammenwachsen heißt in diesem Fall nicht – entgegen der Intuition –, dass sämtliche ärmere Menschen reicher geworden sind, während die reichsten im Vergleich verloren haben.

Die Grafik stellt die unterschiedlichen Wachstumsraten der 20 globalen Einkommensventile von 1988 bis 2008 dar. Sie beantwortet die Frage: Um wie viel Prozent sind die Einkommen der Armen, der Mittelschichten und der Reichen gewachsen, geteilt in Zwanzigstelschritte? Die Grafik zeigt: Zwar sind die unteren und mittleren Ventile in den letzten Jahrzehnten stärker gewachsen als die oberen Ventile. Sowohl die ärmsten als auch die reichsten Menschen sind aus diesem Trend jedoch ausgenommen. Das unterste Ventil hat nur geringes Wachstum erfahren; das reichste hingegen relativ hohes.

 

Der genauere Blick auf die Spitze der Einkommensverteilung zeigt, dass gerade an der Spitze die simple Schlussfolgerung, die Welt sei gleicher geworden, nicht zulässig ist. Der World Inequality Report hat hierfür mit zusätzlichen Datenquellen die Elefanten-Grafik weiter aufgeschlüsselt, mit dem Ergebnis, dass das reichste Prozent ganze 27 % des gesamten globalen Wachstums zwischen 1980 und 2016 vereinnahmt hat.

Schaut man statt auf den GINI-Index auf das Verhältnis der reichsten 1 % zu den unteren 99 % ist die Ungleichheit seit 1980 sogar gestiegen: Der Anteil des obersten 1 % der Einkommensbezieher ist von 16 % im Jahr 1980 auf 22% im Jahr 2000 gestiegen; anschließend ging er lediglich leicht zurück auf 20 %. Um den Vergleich zu den Oxfam-Daten zu Vermögen zu ziehen: Die obersten 0,1 % (!) haben in den letzten 35 Jahren mehr Einkommen dazu gewonnen als die unteren 50 % zusammen.

Zudem sollte nicht unerwähnt bleiben, dass innerhalb der Länder die Schere zwischen Arm und Reich in den meisten Fällen weiter auseinander geht. Nationale Ungleichheit hat dabei vermutlich eine besonders hohe Relevanz für die tägliche Lebensrealität der meisten Menschen. Denn ungleiche Staaten haben mit vielen sozial-psychologischen Problemen zu kämpfen.2 Statistisch gesehen ist das Zusammenwachsen der mittleren Einkommen zwischen Staaten jedoch ausgeprägter als die zunehmende Spreizung innerhalb dieser Staaten.

Auch am unteren Rand der globalen Einkommensverteilung sollte genauer hingeschaut werden. Denn auch hier verläuft das “Zusammenwachsen” sehr ungleich; das Wachstum nimmt nicht alle Menschen mit. Besonders in Afrika gibt es weiterhin viele Menschen, die in Armut leben, da ihre Staaten seit Jahrzehnten kaum wirtschaftliches Wachstum erfahren.

Zur Verdeutlichung berechnet Milanović, wann Staaten ihr jetziges Bruttonationalprodukt das erste Mal in der Landesgeschichte erreicht haben. Ergebnis: 84 von 154 Staaten erfuhren 2015 ihr historisches Spitzeneinkommen. Dazu gehören die oben bereits erwähnten Erfolgsgeschichten und Treiber globaler Konvergenz: Asiatische und lateinamerikanische Staaten wuchsen zumeist konstant. Relativ reiche Europäische Krisenstaaten wie Griechenland und Irland haben seit der Finanz- und Schuldenkrise von 2007/2008 12–17 Jahre Wachstum verloren (so Milanovićs Ausdrucksweise dafür, wann Staaten zum ersten Mal ihr jetziges BNP erreicht hatten). Sorgenkinder sind vor allem einige afrikanische Staaten (und Haiti) wie die Demokratische Republik Kongo, die heute ärmer sind als zu Beginn ihrer Unabhängigkeit. Da von so weit in der Vergangenheit oft keine Daten vorhanden sind, kann nur spekuliert werden. Einige Staaten haben wahrscheinlich sogar bis zu 100 Jahre verloren.

Zusammenfassend lässt sich konstatieren: Globales Zusammenwachsen heißt leider nicht, dass es allen Menschen in den ärmsten Ländern der Welt besser geht; einigen Gruppen geht es wirtschaftlich gesehen sogar schlechter als noch vor 100 Jahren. Und auch die unteren und mittleren Einkommensschichten im Globalen Norden stagnieren oder können sogar das Einkommensniveau ihrer Elterngeneration nicht aufrechterhalten. Gleichzeitig wachsen die Einkommen der wenigen Superreichen besonders schnell. Arm und Reich wachsen zusammen – sehr Arm und Superreich entfernen sich.

Für das statistische Zusammenwachsen sind einige bevölkerungsreiche, aufstrebende asiatische Staaten verantwortlich. Milliarden Menschen haben in den letzten Jahrzehnten von einem steilen wirtschaftlichen Aufschwung profitiert. Dies stellt eine äußerst positive Entwicklung dar – sie ist nur bei weitem nicht ausreichend. Denn eine Welt, in welcher allein die Nationalität noch immer über zwei Drittel der globalen Einkommensunterschiede entscheidet, ist nicht gerecht. Und diese Ungerechtigkeit hat fatale Folgen, wie die Coronakrise brutal aufzeigt.

Bemühungen für Steuergerechtigkeit auf nationaler und globaler Ebene sind daher geboten, um einerseits die unverhältnismäßige Akkumulation der ökonomischen Eliten einzuschränken und andererseits einkommensschwachen Staaten die Möglichkeit zu bieten, ihre Bevölkerung aus der Armut zu führen. Dafür setzt sich das Netzwerk Steuergerechtigkeit ein.

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Dieser Artikel ist der erste Teil einer Serie von Artikel, die den Hintergrund und die Motivation für die Arbeit des Netzwerks ausleuchten. Mehr Informationen zu den wichtigen Aspekten der Steuergerechtigkeit im Hinblick auf Entwicklung gibt es in unserer Informationsbroschüre “Steuern in der Entwicklungszusammenarbeit” (Webversion, PDF und gedruckte Broschüre) sowie unserem monatlichen Newsletter (“Informationsliste”). In der AG Steuern und Entwicklung koordiniert der Autor Yannick Schwarz für das Netzwerk Steuergerechtigkeit gemeinsam mit Vertreter*innen einer Reihe NGOs und Einzelpersonen die zivilgesellschaftliche Arbeit zu Themen der Finanzierung von Ländern des Globalen Südens. Wenn Sie unsere Arbeit unterstützen möchten, können Sie hier eine Fördermitgliedschaft abschließen.

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