Was hat Steuergerechtigkeit mit Demokratie zu tun? Ein Kommentar von Karl-Martin Hentschel
Karl-Martin Hentschel | Veröffentlicht am |
Die beiden international bekannten Top-Ökonomen E. Saez und G. Zucman von der Universität in Berkeley in Kalifornien haben ein bemerkenswertes Buch herausgebracht. Es ist eine Herausforderung nicht nur für Ökonomen, sondern auch für alle Menschen, die sich für mehr Demokratie engagieren. Daher stelle ich hier einige Punkte aus dem Werk dar:
Im Jahre 1919 hielt der konservative Ökonom Irving Fisher, Präsident der American Economic Association, auf deren Jahrestagung eine Rede, in der er die „undemokratische Vermögenskonzentration in den USA“ anprangerte.
Als nach der Weltwirtschaftskrise 1929 Millionen Menschen arbeitslos wurden und Millionen von Bauern ihre Höfe verloren, weil sie die Zinsen nicht mehr bezahlen konnten, wurde 1932 Franklin D. Roosevelt zum Präsidenten gewählt. Er entpuppte sich in der Folge als der radikalste Sozialreformer der US-Geschichte. Gegen den massiven Widerstand der konservativen Kreise wurde er als einziger Präsident dreimal wiedergewählt.
Roosevelt schaffte es, den Spitzensteuersatz für Jahreseinkommen ab 25.000 Dollar – das entspricht heute ca. eine Million Dollar – schrittweise von 25 Prozent auf zunächst 91 Prozent anzuheben. Nach Kriegseintritt 1942 beantragte er dann im Kongress einen Spitzensteuersatz von 100 Prozent. Interessant ist vor allem seine Begründung: „Die Unterschiede zwischen niedrigen und sehr hohen individuellen Einkommen müssen verringert werden. … kein US-Bürger (sollte) über ein Nettoeinkommen, also nach Steuern, von über 25.000 Dollar verfügen …“ Der Kongress hielt das aber für übertrieben und beschloss einen Spitzensteuersatz von „nur“ 94 Prozent.
Das Interessante an der Begründung von Roosevelt bestand darin, dass es ihm nicht um die Einnahmen ging. Den Spitzensteuersatz mussten eh nur 306 Bürger zahlen. Sein Ziel war es, die Ungleichheit zu reduzieren. Es ging ihm allein um den sozialen Zusammenhalt in der Gesellschaft. Auch in Großbritannien lagen die Spitzensätze von 1941 bis Mitte der siebziger Jahre bei 90 Prozent.
Das Buch schildert die wechselhafte Geschichte der Steuern in den USA. Ein Land, das Anfang des 20. Jahrhunderts noch stolz darauf war, gerechter und demokratischer zu sein als die elitären Gesellschaften in Europa, hat sich heute ins Gegenteil verkehrt. Schon unter Reagan wurde der Spitzensteuersatz auf 28% gesenkt. Unter Trump zahlt ein Milliardär erstmals in der US-Geschichte weniger als seine Sekretärin.
Die Autoren ziehen daraus interessante Konsequenzen:
1. Das Steuersystem darf in einer Demokratie nicht dazu führen, dass die Reichen immer reicher werden und die Armen immer weiter abfallen. Genau das passiert aber: Das Einkommen der unteren 50% ist in den USA seit 1980 stagniert, das der ärmsten 15% ist sogar gesunken. Das Einkommen der 1% Reichsten hat sich dagegen versiebenfacht, das der Milliardäre stieg sogar auf das Vierzigfache! Allein in diesem Jahr ist das Vermögen des reichsten Bürgers Jeff Bezos (Besitzer von Amazon) um 25 Milliarden gewachsen. Dieses Einkommen ist steuerfrei – und wäre das auch in Deutschland, denn es handelt sich ja um Aktiengewinne und nicht um Dividenden.
2. Die Autoren entwickeln daraus Vorschläge für ein Steuersystem. Ausgangspunkt für sie ist die Gerechtigkeitsphilosophie von John Rawls – der wohl der bedeutendste Gerechtigkeitsphilosoph des 20. Jahrhunderts. In seinem Hauptwerk Eine Theorie der Gerechtigkeit kommt er zu dem Ergebnis: Ungleichheit ist nur dann gerechtfertigt, wenn die Ärmsten davon profitieren. Daraus folgern die Autoren: Solange die Erhöhung des Steuersatzes der Reichen zusätzliche Einnahmen generiert, sollte der Steuersatz angehoben werden. So wird die Gesellschaft gerechter und demokratischer.
3. Empirisch liegt nach ihren Untersuchungen der Grenzsteuersatz, der die größtmöglichen Einnahmen von den Reichen generiert, bei etwa 75 Prozent. Ich verzichte an dieser Stelle auf die Details, wie das mit ihrem Steuermodell erreicht werden soll. Das kann man nachlesen.
4. Viel spannender ist, was dann kommt: Sie stellen nämlich rein empirisch fest, dass selbst diese Besteuerung nicht ausreicht, um eine Demokratie stabil zu machen. Denn selbst dann würden die Milliardäre einen immer größeren Teil des gesellschaftlichen Reichtums besitzen. Schon heute ist das Vermögen von weniger als einem Dutzend Multimilliardären größer als das von 50% der Menschheit – also von 3,5 Milliarden Menschen. Das Vermögen dieser Gruppe ist in den vergangenen 40 Jahren durchschnittlich jährlich um 10 Prozent gewachsen. Wenn das so bleibt, werden immer mehr Menschen irgendwann den Schluss ziehen, dass die Demokratie nicht funktioniert – dass die Demokratie nur den Eliten nützt.
5. Daraus ziehen die Autoren den Schluss, dass Multimilliardäre für den Teil ihres Vermögens, das 1 Milliarde übersteigt, eine Vermögenssteuer von 10 Prozent bezahlen müssen – zusätzlich zu einer Einkommenssteuer von 75%. Sie werden dann etwas weniger reich sein, sie bleiben aber trotzdem immer „noch“ Milliardäre.
Man kann die Autoren für wahnsinnig halten oder für radikale Revolutionäre. Nur: Ihre Radikalität hat einen einfachen Grund: Sie haben auf Basis der größten verfügbaren Datenbank über Einkommen- und Vermögensverhältnisse schlicht ausgerechnet, was wir tun müssen, um die Demokratie zu erhalten. Sie bieten sogar zu dem Buch eine Internethomepage an. Da kann jeder seine eigenen Parameter für sein Steuersystem einstellen und sich anschauen, was das bewirkt! Auch Auswirkungen der Steuervorschläge der Präsidentschaftskandidaten werden dort dargestellt.
Fazit: Wenn sich jemand die Frage stellt, ob soziale Gerechtigkeit etwas mit Demokratie zu tun hat, dann gibt dieses Buch eine rein ökonomische Antwort: Die nüchternen Zahlen dieser beiden Professoren aus Kalifornien sagen uns eindeutig: „Ja“.
4 Kommentare
Die Frage lautet nicht – was hat Steuergerechtigkeit mit Demokratie zu tun, sondern, was hat Steuergerechtigkeit mit Kapitalismus zu tun? Wenn letztere Frage geklärt ist, können wir uns auch über die Demokratie unterhalten. Die Frage lautet immer – cui bono? Es ist die Grundfrage zu stellen. Warum wird immer auf Nebenschauplätze ausgewichen?
Henning Hagen
Demokratie ist kein Nebenschauplatz, sondern der zentrale Platz, an dem über die Macht in der Gesellschaft entschieden wird. Es war ein Irrweg, zu glauben, wie bekommen Gerechtigkeit ohne Demokratie – durch eine Diktatur des Proletariats. Denn das war eine Diktatur einer sich selbst rekrutierenden Elite.
Nur wenn wir die Demokratie so weiterentwickeln, dass auch die ärmeren 50% der Gesellschaft, insbesondere die “Bildungsfernen” oder wie Saez und Zucman ganz traditionell sagen die “Arbeiterschicht”, ihre Interessen gleichberechtigt einbringen können, wird es Steuergerechtigkeit geben. Die USA ist noch mehr eine Elitendemokratie als die meisten EU-Staaten – die Mehrheit der Abgeordneten sind Millionäre.
250 Jahre nach Montesquieu und Rousseau wird es Zeit, die Frage der Demokratie neu zu stellen. Wie das geschehen kann und wie wir dahin kommen können, ist Gegenstand meines letzten Buches “Demokratie für morgen”. In diesem Artikel ging es mir darum, festzuhalten, dass Demokratie und Steuergerechtigkeit zwei Seiten einer Medaille: Eine Gesellschaft ohne Steuergerechtigkeit ist noch keine wirkliche Demokratie. Aber umgekehrt gilt das auch: Ohne Demokratie bekommen wir auch keine Gerechtigkeit.
Karl-Martin Hentschel
Da hast Du Dir aber Muehe gegeben
Vielen Dank, toller Beitrag